Wie sieht die Zukunft des Arbeitens mit Künstlicher Intelligenz aus? Wie wirkt sich KI auf Führung aus? Und wie können sich Führungskräfte auf den vermehrten KI-Einsatz vorbereiten? Das waren Themen, die ich mit Verena Teil, Digital Transformation & Future Research Expertin und Projektleiterin der Studie „Leben, Arbeit, Bildung 2035+“, in unserem gemeinsamen Interview besprochen habe.
Verena, du bist Projektleiterin der Studie „Leben, Arbeit, Bildung 2035+“ des MÜNCHNER KREIS, die vor Kurzem veröffentlicht wurde. Was war Zielsetzung dieser Studie und wie wurde diese durchgeführt?
Das ist bereits die achte Zukunftsstudie des MÜNCHNER KREIS. Diese wurde im Juni 2020 gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung unter Schirmherrschaft des Bayerischen Digitalministeriums herausgegeben. Zielsetzung der Zukunftsstudien MÜNCHNER KREIS ist es, ein Technologiethema genauer zu betrachten und Orientierung in diesem Themenbereich zu geben. Die Studien richten sich an die interessierte Öffentlichkeit, an Fachexpert*innen und Politiker*innen.
In der aktuellen Studie geht es konkret um Künstliche Intelligenz und wie KI-Technologien unsere zukünftige Lebenswelt beeinflussen werden. Gemeinsam mit dem Partnerkreis haben wir das Thema KI in den Kontext des Dreiklangs „Leben, Arbeit, Bildung“ gestellt. Diese Bereiche gehen stark ineinander über, so kann man zum Beispiel Leben und Arbeiten heutzutage oft kaum mehr getrennt voneinander betrachten. Der methodische Hintergrund war eine Delphi-Befragung. Insgesamt waren 15 Partnerunternehmen dabei, die sämtliche Digital- und Technologieexpert*innen aus ihrem Netzwerk dazu eingeladen haben, bei diesem Zukunfts-Delphi mitzuwirken.
Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ wird sehr unterschiedlich aufgefasst. Von welchem Verständnis seid ihr in der Studie ausgegangen?
Wir sind von einer relativ breiten Definition von KI ausgegangen, die im Kern aussagt, dass ein KI-System die eigene Umgebung analysiert und aus diesen gewonnenen Daten selbst Handlungen ableitet. Da wir nicht nur reine KI-Expert*innen befragt haben, sondern etwas in die Breite gegangen sind, das heißt Digital- und Technologieexpert*innen sowie Expert*innen aus den drei Themenbereichen, befragt haben, haben wir uns dafür entschieden.
Ihr unterscheidet in der Studie die Bereiche Leben, Arbeit und Bildung. Ich möchte nun den Fokus auf den Bereich Arbeit legen, da es ja auch darum gehen soll, wie Führungskräfte auf diese durch KI ausgelösten Veränderungen reagieren können. Springen wir also gleich ein paar Jahre weiter in die Arbeitswelt der Zukunft. Ein Großteil der in der Studie befragten Expert*innen geht davon aus, dass in Zukunft die Steuerung von Arbeitsaufgaben von KI übernommen wird, wodurch Arbeitsleistung transparenter wird und sogar administrative Führungsaufgaben, wie Aufgabenplanung, Zielerreichung und Kontrolle an Künstliche Intelligenz abgegeben werden. Ich kann mir vorstellen, dass diese Entwicklung bei einem Großteil der Beschäftigten auch Ängste hervorruft. Wo liegen hier aber auch Vorteile und wie können die Mitarbeiter*innen auf dieser Reise mitgenommen werden?
Der relevante Punkt im Zusammenhang mit der Führung der Zukunft in Kombination mit KI ist, dass Führung menschzentrierter wird. Viele Arbeitsprozesse und Analyseaufgaben, die gegenwärtig noch (teilweise) manuell erledigt werden, können zukünftig komplett von KI-Systemen beziehungsweise den dahinterliegenden Algorithmen übernommen werden. Der Mensch hat die Möglichkeit, die gewonnen Freiräume für andere Dinge nutzen. Zum Beispiel kann er sich in Bezug auf Führung vermehrt um Konflikte im Team, Motivation und Kreativleistungen kümmern.
Ängste in der Belegschaft kann man durch eine offene und transparente Kommunikation über den Einsatz von KI abbauen. Es geht darum, mit den Mitarbeiter*innen in den Dialog zu gehen und ein realistisches Verständnis für die Potenziale und Grenzen von KI zu entwickeln. Es kommen nicht plötzlich lauter Roboter, Maschinen und Systeme, die uns die Arbeit wegnehmen. Dadurch, dass KI-Systeme Teile der Aufgaben übernehmen können, kommen beim Menschen wieder andere, neue Aufgaben und Fragestellungen dazu. Es wird also eine Verschiebung von Tätigkeitsprofilen stattfinden. Ich gehe davon aus, dass wir zum einen mehr IT-Expert*innen brauchen, also Leute, die sich gut mit den Digitaltechniken auskennen, zum anderen aber auch Leute, die kreativ sind, weil das etwas ist, das die KI aktuell noch nicht kann.
Die Mehrheit der befragten Expert*innen sieht einen Eingriff von KI in die Teamzusammenstellung in den nächsten 5-15 Jahren als sehr realistisch an. Aus Personalersicht verstehe ich darunter den Einsatz von KI in der Personalauswahl und in der Zusammenstellung von Projektteams. Nun neigen wir Menschen aufgrund von psychologischen Prozessen immer wieder zur Benachteiligung von bestimmten Beschäftigtengruppen. Wenn ich diese Auswahl einer Künstlichen Intelligenz überlasse, könnte sich diese Tendenz aus meiner Sicht sogar noch eher verstärken. Nehmen wir als Beispiel Amazon in den USA, wo der Algorithmus erkannt hat, dass dort aktuell hauptsächlich Männer tätig sind, und somit Frauen im Auswahlprozess gleich aussortiert wurden. Wie kann es nun trotzdem gelingen dabei diskriminierungsfrei und weiterentwicklungsorientiert vorzugehen?
In der Theorie ist KI-Technologie neutral, das heißt es handelt sich dabei um wertfreie Entscheidungsprozesse. Einfach gesagt: es wird nur das ausgegeben, was am Anfang eingegeben bzw. programmiert wird. Wenn man also von Beginn an mit diversen Lerndaten trainiert, dann wird das Ergebnis auch divers sein. Das nennt man „Diversity in – Diversity out“. In der Praxis passiert es, dass mit unvollständigen oder veralteten Datensätzen gearbeitet wird. Eine weitere Fehlerquelle kann die unzureichende Sensibilität von Entwickler*innen für diverse Datensätze sein.
Ein weiteres bekanntes Diskriminierungsbeispiel ist ein Seifenspender, der nur auf weiße Haut reagiert hat. Hier wurde das Programm nicht mit ausreichend Daten gefüttert, das heißt es wurden nicht genügend Hände mit unterschiedlichen Hautfarben in das Training mitaufgenommen. Das System hat also nicht gelernt hat, dass Hände verschiedene Farben haben.
Wir sollten also nicht blind vertrauen, sondern auch stets kritisch darauf schauen, was die KI macht: Ist es ein faires Ergebnis? Kann ich damit arbeiten? Bei dem Amazon-Beispiel muss es schließlich auch jemandem aufgefallen sein, dass Männer bevorzugt wurden. Der gesunde Menschenverstand muss immer eingeschaltet bleiben.
Wir sprechen aktuell ja bereits von einem Fachkräftemangel. Die befragten Expert*innen nehmen aber an, dass sich der Kampf um Talente in Zukunft in nie dagewesene Dimensionen schrauben wird. In welchen Bereichen werden diese Talente gesucht?
Eine im Partnerkreis erarbeitete These war, dass der Mensch in Zukunft viel mehr als jetzt für kreative Leistungen zuständig ist, da Maschinen durch automatisierte Prozesse Tätigkeiten übernehmen. Aber der Mensch wird nicht nur verstärkt für Kreativität zuständig sein, sondern ist auch Gestalter der digitalen Welt. Das heißt, wir brauchen (IT-)Fachkräfte, welche die digitalen Systeme programmieren, warten, pflegen, justieren und kritisch bewerten können. Und es ist besonders wichtig, dass dies nicht nur Männer tun, sondern dass sich auch viel mehr Frauen trauen, in diese digitalen Berufe zu gehen. Schließlich leben Männer und Frauen gemeinsam in dieser digitalen Welt.
Sehr spannend finde ich die These, dass Menschen in Zukunft mehr Vertrauen in die Empfehlungen einer KI haben werden als in die menschlicher Kolleg*innen. Damit einher geht aus meiner Sicht auch die Annahme, dass wir in vielen Bereichen ohne KI nicht mehr arbeitsfähig sein werden. Wie wird sich dies auf psychologischer Ebene auf uns Menschen auswirken?
In Welle 2 des Zukunftsdelphis wurden die Expert*innen gebeten, einzuschätzen, wie stark eine Realisierung der einzelnen Thesen auf insgesamt fünf, von uns entwickelte, Dimensionen wirkt, diese sind: Sinnstiftung für den Einzelnen, also der Mensch in der Beziehung mit sich selbst, Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen, also der Mensch in der Interaktion mit anderen, Konsens in der Gesellschaft, also der Mensch als Teil der Gesellschaft, Beurteilungsprozesse, also das Beurteilen von menschlichem Handeln und regulatorische Gestaltungsparameter, zum Beispiel Gesetze.
Eine Erkenntnis war, dass die Thesen, wenn sie alle so eintreten, insgesamt eine starke Auswirkung auf alle Dimensionen haben werden, also natürlich auch auf die Sinnstiftung des Einzelnen. Wenn es also bisher mein Job war, etwas manuell zu machen und diese Tätigkeit nun von einer Maschine übernommen wird, dann gilt es, diese gewonnene, freie Zeit sinnvoll bzw. sinnstiftend zu nutzen.
Auch zwischenmenschliche Beziehungen werden sich verändern. Wir werden verstärkt mit KI-Systemen zusammenarbeiten und in vielen Bereichen weniger menschliche Interaktion haben als bisher. Hier wird es in Zukunft viele Veränderungen geben. Deshalb ist es umso wichtiger, das Thema KI interdisziplinär zu betrachten. Da muss die Psychologie involviert werden in Bezug auf die Fragestellung, was mit den Menschen passiert, wenn sie viel mit KI-Systemen arbeiten. Die Pädagogik muss dazu genommen werden, wenn die Menschen mit KI-Systemen lernen. Es geht im Kontext von KI also nicht nur um das Programmieren, sondern auch darum, was mit dem Menschen passiert.
Wie können Führungskräfte sich, ihr Team und ihre Organisation auf eine Zukunft mit vermehrter KI-Nutzung vorbereiten?
Hier gilt das, was auch in Bezug auf die Digitalisierung in den letzten Jahren gegolten hat. Der Mittelstand war hier lange hinterher. Das Gleiche gilt, aus meiner Sicht, für die KI-Technologien. Man darf sie jetzt nicht verschlafen und muss sie als Wettbewerbsfaktor ernst nehmen. KI ist schon da und wird bleiben. Die Systeme müssen jetzt nach und nach implementiert werden und es gilt, die Belegschaft für die Anwendungen aus- und weiterzubilden. Das sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden, bis es zu spät ist und man den Anschluss verpasst hat. Transparenz und offene Kommunikation über die Potentiale von KI sind hier besonders wichtig. Vielen denken bei KI an einen Science-Fiction-Roboter, aber das ist es ja nicht. Wir haben im Projektteam da von der „Entmystifizierung der KI-Technologie“ gesprochen.
Von den befragten Expert*innen waren 78% männlich. Was könnte, deiner Meinung nach, eine mögliche Erklärung sein, dass so wenige Frauen befragt werden konnten?
Der Partnerkreis der Zukunftsstudie besteht aus vielen Technologieunternehmen und -konzernen. Die meisten Digital- und Technologiethemen sind nach wie vor sehr männlich besetzt, das spiegelt sich dann auch in den Netzwerken und somit in der Befragung wider. Insgesamt habe ich aber das Gefühl, rund um das Thema „Frauen und Technologie“ bewegt sich aktuell etwas. Es gibt viele Initiativen und Projekte rund um Female Empowerment, weibliche Führung und Frauen im Digital- und Technologiebereich. Ich bin optimistisch, dass es bei einer erneuten Durchführung der Zukunftsstudie in 10 Jahren vielleicht anders aussehen würde.
Als Projektleiterin war es deine Aufgabe, eine Reihe von Akteuren zu koordinieren. Dabei kann man definitiv von lateraler Führung, also Führung auf gleicher Ebene sprechen. Was waren dabei für dich Erfolgsfaktoren als Projektleiterin?
Ich glaube, dass man in einem so großen Partnerprojekt immer wieder verschiedene Blickwinkel einnehmen sollte. Zum einen muss man das große Ganze im Blick haben, die übergeordnete Zielsetzung. Man muss gewährleisten, dass alle Partner an einen Tisch kommen und sich austauschen können, und dass sich jeder gleichberechtigt fühlt. Zum anderen geht es darum, neben dem großen Kreis auch die persönlichen Beziehungen zu pflegen. Beispielsweise im Nachgang zu einer großen Team-Telefonkonferenz noch einmal einzelne Personen anzurufen und sich zu einem bestimmten Thema intensiver auszutauschen. Dabei ist es wichtig, die Personen in ihrer Funktion und in ihrer Expertise zu kennen. Das Projektteam bestand aus Fachleuten, Führungskräften, Geschäftsführer*innen, die selbst Führungspositionen innehaben. Für mich war es wichtig, mit Bedacht zu führen beziehungsweise zu koordinieren und auf die Expertise der Teammitglieder zu vertrauen.
Was rätst du Frauen, die als Projektleiterinnen in männerdominierten Bereichen tätig sind oder sein wollen?
Eine sehr gute Frage. Mein Learning im Laufe der letzten 10 Jahre war, dass es wesentlich ist, sich etwas zuzutrauen und Mut zum „Machen“ zu haben. Wenn ich mich mit mir selbst vor 10 Jahren vergleiche, habe ich mich zum Beispiel in den großen Runden älterer, überwiegend männlicher Experten nicht getraut zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Das habe ich mittlerweile gut überwunden. Das Kernelement ist für mich der Mut, denn es kann ja nichts Schlimmes passieren. Hilfreich ist es auch, sich Mentor*innen zu suchen. Ich habe einige Mentoren in meinem Bekanntenkreis, die mich auf meinem Weg begleitet und stets ermutigt haben.
Vielen lieben Dank dir, Verena, für das tolle und inspirierende Interview.
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Rahmendaten zur Studie
- SCHIRMHERRSCHAFT: Bayerisches Staatsministerium für Digitales
- HERAUSGEBER: MÜNCHNER KREIS e. V., Bertelsmann Stiftung
- FÖRDERPARTNER: Fujitsu Technology Solutions GmbH
- UNTERSTÜTZER: deep innovation, Telekom Deutschland GmbH, T-Systems Multimedia Solutions GmbH, digital@M GmbH, fortiss GmbH, iteratec GmbH, Robert Bosch GmbH, SAP SE
- DURCHGEFÜHRT VON: Innovationszentrum für Industrie 4.0 GmbH & Co. KG, ITM Beratungsgesellschaft mbH
- Veröffentlichung am 23. Juni 2020
https://zukunftsstudie.muenchner-kreis.de/