Ich habe Sandra Jauslin, Personal- und Organisationsentwicklerin, zu einem spannenden, bisher noch eher unbekannten Konzept – dem Reverse Mentoring – interviewt. Reverse Mentoring ist eine Abwandlung des klassischen Mentoring und kann beispielsweise gut in Veränderungsprozessen eingesetzt werden. Einen genauen Einblick, was damit alles möglich ist, gibt uns Sandra Jauslin selbst im folgenden Interview.
Sandra, du bist Wirtschaftspsychologin, Personal- und Organisationsentwicklerin und hast dir das Reverse Mentoring auf die Fahne geschrieben. Wie kam es denn dazu?
Ich bin als Leiterin Personal- und Organisationsentwicklung immer wieder auf diese typischen HR-Themen gestoßen. Beispiel hierfür sind: „Ab 50 bist du abgeschrieben.“ oder „Die Jungen haben noch keine Erfahrung.“
Dann haben wir ein großes Projekt zur Unternehmenskultur betreut, wo in vielen Gesprächen immer wieder diese Themen aufgetaucht sind: Silodenken, Wissen, das nirgends konkret festgehalten ist, die Jungen haben keine Erfahrung, die Alten kann man eh nicht mehr brauchen. Dann dachte ich mir, dass es hier doch etwas geben muss. Ich bin absolut der Meinung, dass viele Mitarbeiter*innen ab 50, abhängig von der Persönlichkeit, sensationell gut drauf sind und so ewig im Berufsleben bleiben könnten – nicht nur bis zum Renteneintritt.
In Anbetracht des demographischen Wandels sind wir auf die ältere Generation angewiesen und die Jungen bringen wertvolles Know-How mit. Dazu kommt noch der Wertewandel, der durch die Corona-Situation verstärkt wurde. Die Sinnfrage tritt noch mehr in den Vordergrund. Die Jungen wollen mehr Freiheit, wollen mehr in das Familienleben investieren. Sie wollen Unabhängigkeit. Wie kann man das miteinander matchen? Was heißt das für eine Organisation? Im Moment leben wir das Reverse Mentoring im Kleinen, zum Beispiel mit der Fragestellung, wie wir das Wissensmanagement festhalten können. Wie können wir das generationenübergreifende Arbeiten anders gestalten? Beim Thema New Work spielen hier auch politische Rahmenbedingungen mit hinein. Für diese Themen brenne ich, sie sind zukunftsweisend.
Um den Kreis zu schließen: Ich habe einem Mitarbeiter den Auftrag erteilt, das Reverse Mentoring in einer großen Versicherungsgesellschaft in der Schweiz einzuführen und dafür ein Konzept auszuarbeiten. Das Resultat des Konzeptes war Gegenstand der Master-Thesis meines Kollegen. Der Professor, der die Arbeit betreute war Feuer und Flamme und wollte mehr aus diesem coolen Thema machen.
Jetzt kann es ja sein, dass der Begriff Reverse Mentoring nicht jedem etwas sagt. Was versteht man denn unter Reverse Mentoring und warum sollten Organisationen dieses einführen?
Der Grundgedanke war, dass der Junior den Senior coacht und sein Wissen weitergibt. Die jungen Generationen sind bei den Digitalthemen wirklich fit und haben automatisch einen anderen Zugang dazu. Wie gehe ich zum Beispiel mit dem Handy, mit dem Touchscreen um? GE, General Electrics, hat ein ähnliches Konzept vor Jahren genau aus diesem Grund eingeführt. Die Jungen haben die Senior Manager zur Digitalisierungsthemen geschult. Damit war das Reverse Mentoring abgeschlossen und wurde nicht weiter als nachhaltiges Tool weitergeführt. Wir haben das Reverse Mentoring, also das umgekehrte Mentoring, noch erweitert, in dem Sinne, dass man auch hierarchieübergreifend denken kann, also dass Mitarbeitende mit Führungskräften und Geschäftsführungsmitgliedern Tandems bilden. Das ist auch bereichsübergreifend möglich.
Weshalb sollte man das machen? Es hat drei Funktionen. Man bringt das implizite Wissen, das nirgends aufgeschrieben ist, hervor. Da geht es zum Beispiel darum, dass die älteren Mitarbeiter wissen, wie man mit welchem Kunden umgehen und sprechen muss. Das Wissen wird sichtbar gemacht und festgehalten. Diese Erfahrung ist Gold wert gerade in Bezug auf die Kundenzentrierung. Die Älteren können von den Jungen profitieren, indem sie neues Wissen aneignen können und die Jungen profitieren von der Erfahrung der Älteren. Damit steigt der gegenseitige Respekt. Das heißt, man wird miteinander vertraut, auch in Bezug auf die Werte. Was treibt uns aktuell an? Was hat uns damals getrieben, mit dem Leistungsgedanken der älteren Generation? Zusätzlich können sowohl Mentor wie auch Mentee sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln. Daraus resultiert das Verständnis füreinander, Respekt, bessere Zusammenarbeit, das Fachwissen wird schneller und praxisorientierter vermittelt. Prozesse können verbessert werden und vielleicht entstehen sogar Innovationen in diesen Tandems. Das sind einige Benefits, wenn man es systematisch und konsequent macht.
Was sind denn Voraussetzungen dafür, dass Mentoring-Paare gut miteinander arbeiten können?
Die Voraussetzung ist die Sympathie, das ist das A und O. Denn ohne Sympathie entsteht kein Vertrauen und keine Offenheit. Wir haben bei den Jüngeren auch Personen ausgewählt, die auf Augenhöhe mit den Älteren kommunizieren können. Es braucht auch eine Lernbereitschaft, intrinsische Motivation und natürlich Kritikbereitschaft. Denn es wird in den Tandems viel gespiegelt und hinterfragt, wie zum Beispiel: „Warum machst du das jetzt so?“
Was ist denn ein Praxisbeispiel für einen erfolgreichen Einsatz des Reverse Mentoring – ganz im Kleinen?
Ein Beispiel ist eine Senior Mentee, welche von einem Tastenhandy auf Touchscreen umstellen wollte. Sie hatte keine Kinder, keine Jugendlichen in ihrem sozialen Umfeld. Wir haben ihr als Mentor einen jungen Mann aus der IT empfohlen. Sie war so happy, dass sie innerhalb von kürzester Zeit in der Lage war, mit dem Touchscreen zu arbeiten. Sie hatte keine Berührungsängste mehr und nutzte das für den privaten und den geschäftlichen Bereich. Hier ging es auch darum, wie man an die Dinge herangeht, wie man etwas Neues lernt. Es ging um Mut, etwas einfach mal umzusetzen und zu machen. Das war eine Erfolgsgeschichte. Ein anderes Tandem, Mentor und Mentee arbeiteten in komplett anderen Funktionen und Bereichen, haben sich gegenseitig im Urlaub vertreten. Das war ein Erfolg auf kultureller Ebene. Das bereichsübergreifende Verständnis wuchs so enorm schnell und Prozesse konnten verbessert werden. Es fand ein inspirierender Perspektivenwechsel statt.
Ihr begleitet Organisationen und Teams, die das Reverse Mentoring umsetzen möchten. Wie sieht diese Begleitung konkret aus, wenn man als Organisation oder Team neu damit beginnt?
Zum einen bieten wir in unserer Lernwerkstatt ein Ausbildungssetting von drei Tagen an. Wir schauen uns an, welche Themen die Organisation aktuell beschäftigen. Wofür benötigen wir eine Lösung? Geht es um das Wissensmanagement oder die Verbesserung der Zusammenarbeit? Wir machen zunächst eine IST-Analyse in der Organisation und schauen im Kleinen, wie wir mit dem Reverse Mentoring etwas bewegen können. Es gibt nicht die Methode, dass wir ein fertiges Tool aufzwingen, sondern wir schauen wirklich nach individuellen Lösungen und beginnen dann mit kleinen Schritten und Experimenten.
Wir setzen das Ganze danach konzeptionell auf. Was ist realisierbar in kleinen Schritten? Unsere Begleitung kann auch daraus bestehen, dass wir Workshops leiten, wie Kick-Off-Workshops zum Prozess-Beginn, Zwischenanalysen, wo das Team dann aktuell steht und was es gebracht hat, und das Controlling dahinter mit der Feinjustierung.
Nehmen wir an jemand ist Führungskraft in einem Unternehmen und findet dieses Konzept interessant. Wie könnte sie oder er das Reverse Mentoring im Team einführen? Was sind hier erste Schritte?
Ich hatte auch eine Führungsperson in der Ausbildung, die das nur für ihren Bereich genutzt hat. Es geht darum, zunächst eine Altersstrukturanalyse zu machen, um herauszufinden, wie das Team aussieht, und die Themen, wie zum Beispiel Nachfolgeregelung, zu identifizieren. Hast du mehr ältere oder jüngere Leute? Mit welchen Themen beschäftigt ihr euch im Moment? Welche Ziele müsst ihr erreichen? Und welche Synergien liegen noch brach? Dann kann man einen einfachen Prozess starten; wer will oder soll dabei sein? Was ist unser Ziel und wie wird der Prozess in den Alltag integriert? Oder man tauscht sich als Abteilung geschlossen mit einer anderen Abteilung aus – also kommen zwei Teams zusammen.
Zum Abschluss und noch einmal allgemeiner: Was sind ganz allgemein deine Tipps, damit Teams agiler und resilienter werden?
Ich sage immer dasselbe. Es geht nicht nur um das Team, sondern um jede einzelne Person. Es geht darum, dass alle mal beginnen, sich selbst zu hinterfragen und eine Standortbestimmung für sich machen. Wer bin ich? Was will ich? Wo will ich überhaupt hin? Es geht darum, ob eine offene Kultur in den Teams herrscht. Wie sieht das bei euch aus? Damit sollte man sich wirklich auseinandersetzen. Es ist auch ein Stück weit der agile Ansatz, dass man die menschlichen Ressourcen hervorhebt und dann schaut, mit welchen Innovationen man schneller vorantreiben kann und beim Kunden ist.
Die Resilienz wird ein noch wichtigeres Thema – respektive Kernkompetenz – werden, weil alles schneller wird und viele Dinge auf einen einprasseln. Es braucht Reflektionsschlaufen und iterative Prozesse. Wie können wir selbst als Team die Widerstandsfähigkeit steigern? Was kann ich als einzelnes Teammitglied tun? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen. Es geht darum, die Synergien und die Ressourcen, die brachliegen, wirklich zu hinterfragen und zu nutzen. Wie können wir die Ressourcen wirklich aktivieren? Es geht auch darum, die Feinjustierung auf den Kunden in Bezug auf die Strategie und die Zielsetzung noch einmal zu überprüfen, um die Geschwindigkeit und die Widerstandsfähigkeit erhöhen zu können. Und ich rate, neue Methoden im Alltag und in der Praxis auszuprobieren und ins Doing zu kommen. Es wird viel zu Tode diskutiert, anstatt es einfach mal zu machen. Da können wir auch von den Jungen lernen, etwas einfach mal zu machen und zu experimentieren. Dafür müssen die Rahmenbedingen wie entsprechende Arbeitsmodelle, Räumlichkeiten und Erlaubnisse als Voraussetzung gegeben sein. Optimal wäre, wenn die Strategie, die Organisation und die Kultur aufeinander abgestimmt sind. Das ist viel Arbeit und keine Selbstverständlichkeit.
Vielen lieben Dank, Sandra, für das spannende Interview.
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