Tina Weinmayer passt in keine Schublade. Neben ihrem unglaublichen Coaching-Talent, das sie als Business Coach und Change Managerin einsetzt, zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie Systeme durchschaut, den rosa Elefanten im Raum anspricht und über den Tellerrand hinaus denkt. Als Head of Finance im IT-Bereich sind Agilität und New Work für sie nicht nur Floskeln, sondern gelebte Arbeitskultur. Sie bezeichnet sich selbst als vielseitig interessierten Scannertypen, der erst lernen musste, sich in seiner Besonderheit anzunehmen – mittlerweile ist sie aber (fast) dort angekommen, wo sie hin will.
Du bist sehr vielseitig. Du bist zertifizierter Business Coach, ausgebildete Change Managerin und Projektmanagerin und arbeitest als Head of Finance und Senior Consultant im Bereich IT. Wie ist es dazu gekommen, dass du so vielseitig und erfolgreich unterwegs bist?
Interessiert war ich schon immer an allem. Ich habe das aber immer für ein Manko gehalten, weil wir so erzogen sind, dass man erst etwas zu Ende machen muss, bevor man etwas Neues anfängt. Erst mit 26 oder 27 Jahren ist mir das Buch ‚Ich kann alles tun, was ich möchte, wenn ich nur wüsste, was ich will‘ von Barbara Sher in die Hände gefallen. Sie beschreibt in ihrem Buch Tauchertypen, die ganz tief in ein Thema eintauchen und bei diesem bleiben, und die sogenannten Scannertypen. Das war eine Offenbarung für mich, weil ich gesehen habe, dass das normal ist. Ich bin ein Scannertyp, der sich viel anschaut und viel interessant findet. Ich behalte ein Thema, wenn ich es mag, und wenn ich es nicht mag, lasse ich es fallen und nehme ein anderes. So ist es gekommen, dass ich verschiedene Ausbildungen habe, was zunächst vielleicht zusammengewürfelt aussieht. Doch beim Change Management passt das hervorragend zusammen. Ich bin Texterin, ich brauche das Projektmanagement und das Thema Finance bezüglich Unternehmensstrukturen sowieso. Als Jugendliche war ich in einem Ferienlager und habe dort wirklich jedes einzelne Angebot mitgemacht, was andere ganz faszinierend fanden. Heute tue ich fast alles, was ich will. Das ist aber Leid und Gutes zugleich, weil ich dann auch in regelmäßigen Abständen wieder weiterziehen muss.
Bleiben wir beim Weiterziehen. Als Business Coach begleitest du Menschen in der Veränderung, als Change Managerin begleitest du Organisationen in der Veränderung, die ja auch durch Menschen ausgemacht werden. Was verbindet diese beiden Tätigkeiten und worin liegen, deiner Meinung nach, Unterschiede?
Eine Verbindung liegt in der Reaktion auf Veränderungen, egal, ob die Veränderung selbst gewählt ist oder von außen kommt. Die sogenannte Veränderungskurve verläuft bei allen ähnlich – in Organisationen sowie bei einzelnen Menschen – denn wenn wir von Organisationen sprechen, sprechen wir ja durchaus von einzelnen Menschen, die eben die Organisation gebündelt ausmachen. In Organisationen besteht die Herausforderung darin, dass sich die ganze Organisation bewegen muss und nicht nur der einzelne Mensch.
Der Wandel und die Veränderung liegen beiden Tätigkeiten zugrunde. Was begeistert dich an diesem Thema?
Jeder kennt aus seinem privaten Bereich sicher die Situation, dass man mal an einem Punkte steht, an dem alles verfahren ist: in der Beziehung und im Job läuft es schlecht, mit der Freundin gibt es Streit, das Bankkonto ist im Minus. Man steht dann an diesem Punkt, an dem man denkt, das sich etwas grundlegend ändern muss. Aber oft sind es klitzekleine Schritte, die letztendlich massive Änderungen hervorrufen. Wenn dann eine gewisse Zeit vergangen ist und man zurückblickt und sich fragt, was denn eigentlich das ursprüngliche Problem war – das ist der Moment, der mich total begeistert und berührt. Wenn man sich begleiten lässt oder wenn man sich selbst herauszoomen kann und dann in der Lage ist, wieder handlungsfähig zu werden… das macht mich total froh und demütig. Oft braucht es auch einfach nur Geduld und ein paar kleine Schritte. Und wenn man dann sieht, was alles möglich ist, obwohl man vorher dachte, es ist gar nichts möglich.
Gerade in der heutigen Zeit sind Veränderungen ja an der Tagesordnung. Durch das Corona-Virus haben Veränderungen noch einmal eine zusätzliche Dynamik aufgenommen. Was rätst du Führungskräften, die damit im Organisationskontext umgehen müssen?
Ich hatte vor Kurzem ein Coaching mit einer Führungskraft, die genau dieses Thema hatte. Was hier wichtig ist, ist sich die eigenen Rollen klarzumachen. Führungskräfte sind auch nur Menschen, das vergessen wir oft. Als Führungskraft bin ich Leader, ich bin ein Ich und zusätzlich Ehemann/Ehefrau und Vater/Mutter. Wenn so etwas wie die Coronakrise kommt, hilft es, sich klarzumachen, welche Themen habe ich in welcher Rolle. Das ändert augenscheinlich nichts, aber dennoch schafft es Klarheit. Als Führungskraft muss ich in das Unternehmen gehen und als Führungskraft agieren und kann mir klarmachen, was brauche ich als Führungskraft und was brauchen meine Leute von mir. Und bin ich bereit als Führungskraft diese Themen zu übernehmen? In meinem konkreten Fall rutschte die Führungskraft in eine Seelsorgerrolle hinein. Das kann in Teilen sinnvoll sein, weil ich meine Leute stärken muss, aber war in diesem Fall zu sehr ausgeprägt. Wenn ich Klarheit habe, kann ich sagen, ich kann das und für dich tun und das nicht, weil hier meine Grenze erreicht ist. Das führt zwangsläufig dazu, dass ich authentisch bin.
Jetzt switchen wir die Perspektive. Das Thema Kommunikation nimmt in Change-Prozessen eine große Rolle ein. Viele Führungskräfte sind dem derzeitigen rasanten Wandel jedoch nicht gewachsen und haben Angst vor der Reaktion ihrer Mitarbeiter*innen. Es gibt verschiedene Gründe, die dazu führen, dass Führungskräfte gar nicht mehr oder falsch kommunizieren. Wie können Mitarbeiter*innen mit diesem Verhalten ihrer Führungskräfte besser umgehen?
Ich als Mitarbeiter darf mir klar machen, was brauche ich jetzt von meiner Führungskraft und das darf ich dieser durchaus auch zumuten. Nicht im Sinne von Streit, sondern im Sinne einer offenen Kommunikation. Es gibt einen Unterschied, ob ich sage, das macht mich wütend oder ob ich wütend reagiere. In dem Moment, wo ich es ausspreche, nimmt es auch die Dynamik heraus. Dann lass ich nicht eine unausgesprochene Erwartung im Raum stehen. Es liegt auch an mir als Mitarbeiter zu sagen: „Ich brauche mehr Infos, damit ich gut arbeiten kann und weniger Angst habe.“ Das trauen sich die Leute aber oft nicht, weil sich zu offenbaren, heißt auch oft Schwäche zu zeigen. Aber in der Kommunikation liegt immer der Schlüssel, davon bin ich überzeugt. Es gibt so oft diesen riesengroßen rosa Elefanten im Raum, den keiner anspricht und trotzdem ist er da und alle sehen ihn. Die Führungskraft ist auch nur ein Mensch, auch sie ist in einer neuen Situation. Auch ihr hilft es, wenn der Mitarbeiter sagt, was er braucht. Führungskräfte sind keine Hellseher und haben ihre eigenen Themen, um die sie sich kümmern müssen. Das wird von den Mitarbeitern oft vergessen, weil sie selbstverständlich auch ihre eigenen Themen haben und von sich ausgehen. Viele Führungskräfte sind durchaus dankbar, wenn die Mitarbeiter Themen ansprechen.
Digitalisierung und New Work sind derzeit Buzzwords in den Organisationen und Treiber von Veränderung. Viele Organisationen springen hier auf. Du hast Erfahrung im IT-Bereich, der in New-Work-Praktiken schon als Vorreiter gilt. Was sind drei wichtige Aspekte, die Organisationen bei Projekten in diesen Bereichen beachten sollten?
Ich erzähle ein bisschen etwas aus unserer Praxis. Wir sind ein IT-Beratungshaus und als Corona und der Lockdown kamen, haben wir nichts verändert, wir sind einfach nur Zuhause geblieben. Wir mussten keine Laptops kaufen, keine VPN-Verbindungen herstellen, wir sind es gewohnt mobil zu arbeiten. Bei uns ist es egal, ob wir an der Südsee sitzen, im Homeoffice oder im Büro.
Aber zwei Wochen bevor der Lockdown kam, haben wir eine neue Kollegin eingestellt. Durch den Lockdown wurden wir örtlich getrennt und es ist eine große Herausforderung, den neuen Mitarbeiter weiterhin mitzunehmen und diesen, auch emotional, nicht zu verlieren. Durch unsere Chattingtools haben wir uns Guten Morgen gesagt und uns zum Feierabend verabschiedet, über die übliche Einarbeitung hinaus. Man kann das für unnötig halten, für das Kontakt halten ist es super wichtig. Das setzt gleichzeitig eine Kultur voraus, die es erlaubt, dass eine Teilzeitkraft um zwei Uhr offiziell sagen kann, ich gehe jetzt nach Hause, ohne dass die anderen abfällig reagieren. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Kommunikation im Sinne von in Kontakt bleiben ist wichtig. Gleichzeitig spielt Eigenverantwortung eine große Rolle. Die neue Kollegin musste sich jetzt aktiv an mich wenden, wenn sie Fragen hatte, wenn sie leerlief oder wenn irgendwas war, denn ich konnte das ja nicht mehr sehen. Gute Tools helfen, aber es geht auch darum, diese Tools wertvoll zu nutzen.
Und gleichzeitig sind nicht alle Mitarbeiterbedürfnisse gleich. Ich zum Beispiel finde Homeoffice super. Mir reicht es, wenn ich einmal in der Woche ins Büro fahre. Andere brauchen den Kontakt, weil sie Zuhause sonst einfach eingehen. Wenn dieser Mix akzeptiert wird, eine gute Kommunikation und guter Kontakt untereinander besteht, Tools angemessen genutzt werden und Mitarbeiter Eigenverantwortung zeigen (dürfen), dann ist schon ziemlich viel getan.
Agilität ist nun auch ein Buzzword. Viele wollen es sein, die wenigsten sind es. Was würdest du sagen, macht eure Organisation als agile Organisation besonders, auch in Bezug auf Führungsverantwortung, aber auch allgemein in Bezug auf Organisation und Struktur?
Letztens habe ich gelesen: „Wer Scrum noch nutzt, ist nicht agil.“ Die Provokation liegt darin, wenn ich immer noch ein Regelwerk brauche, dann habe ich das agile Denken noch nicht verinnerlicht. Ich denke, auch wir sind noch am Anfang. Es ist aber unsere Stärke, dass wir das wissen.
Wir agieren agil. Was heißt das genau? Wir machen regelmäßig eine Standortbeurteilung und gucken, wo wir stehen und wo wir eigentlich hinwollten. Dann justieren wir unter Umständen nach und ändern Methodiken, natürlich passend zu unserer Strategie und unseren Zielen. Wir sind in extrem viel Kontakt mit allen Mitarbeitern, wir leben ein ausgeprägtes Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht. Große Invest-Entscheidungen treffen wir noch nicht im Team. Ich kenne aber ein Unternehmen, das auch mit allen 250 Mitarbeitern so weit geht.
Ich glaube, man darf anerkennen, dass die Agilität im Prozess liegt, nicht im Zustand. Wichtig ist, die Mannschaft mitzunehmen in diesem Prozess. Es funktioniert eben nicht, wenn ein Vorstand beschließt, wir machen jetzt agil, wir haben uns da was ausgedacht, macht das mal. Wenn ich aber alle mitnehme und mitentscheiden lasse und deren geballte Kompetenz einbinde, was ja auch eine Chance ist, dann kann ich da schon ziemlich viel machen.
Wir schauen uns jetzt näher deine Tätigkeit als Business Coach an. Als Business Coach arbeitest du auch stark mit reinen Frauengruppen. Was ist daran besonders oder anders?
Das ist ein sehr geschützter Rahmen mit extrem viel Wertschätzung, wo sich die Frauen auf Augenhöhe begegnen können und zwar ganz unabhängig von ihrer Rolle und Meinung. Da geht es wirklich nur um die Frau. Wenn sich Frauen auf diese Art, ohne Konkurrenz, ohne Vergleich, nur mit Wertschätzung, begegnen, dann ist es unfassbar, wie viel Kraft und Energie dabei entsteht und wie viel jede davon mitnehmen kann.
Es gab diesen einen Moment in einem Workshop, wo eine Frau zum Abschluss sich selbst mit einer Überschrift beschreiben sollte, und ihr fiel nichts ein. Wir hatten diesen Abend schon 2,5 Stunden miteinander verbracht und die Frauen kannten sich vorher nicht untereinander. Ich habe dann gefragt, ob jemand anderem etwas einfällt. Und dann haben die restlichen fünf Frauen wie in einem Brainstorming gesammelt, wie sie diese Frau sehen. Diese saß da und ihr liefen vor Rührung die Tränen über die Wangen. Da war so viel Wertschätzung und Liebe. Das ist in diesem Rahmen möglich und das genieße ich sehr. Wenn wir das mehr in unserem Alltag hätten, wenn Frauen anfingen, sich zu supporten mit Wertschätzung und Respekt, ohne Konkurrenz, davon bin ich überzeugt, wären wir doppelt so stark als wir es ohnehin schon sind.
Du hast diesen geschützten Rahmen angesprochen. Du bist auch als Speakerin unterwegs und hast auch schon einen TEDx-Talk gehalten, wo man sich raustraut und keinen geschützten Rahmen hat. Was würdest du Frauen raten, die überlegen, selbst als Speakerin zu starten?
Tut es. Tut es unbedingt. Wir haben viel zu wenig Frauen als Speaker. Bei meinem TEDx-Talk wurde deutlich, dass die Veranstalter Schwierigkeiten haben, Frauen als Speakerinnen zu finden. Manche Frauen trauen sich das nicht zu und denken, sie hätten nichts zu erzählen. Doch das stimmt nicht. Frauen sind kompetent, Frauen haben Themen und Frauen haben eine ganz andere Weise, diese zu kommunizieren. Alle profitieren davon, weil wir dadurch mehr Vielfalt erleben. Es ist eine tolle Erfahrung, auch mit einem sensiblen Thema, so wie ich es gemacht habe.
Der andere Tipp ist: Ich habe mich dabei begleiten lassen, ich hatte selbst einen Coach, der mich darauf vorbereitet hat. Das würde ich jeder Frau ans Herz legen. Lasst euch coachen bezüglich Körpersprache und Ausdruck. Bei mir hat das auch ganz viel mit meiner inneren Haltung gemacht. Ich habe bei den Proben meine Beine immer überkreuzt. Das ist ein Schutzmechanismus, dass ich meine Mitte schützen möchte – das wirkt aber ganz ungut. Da nochmal den festen Stand zu üben und an der inneren Haltung zu arbeiten, hilft sehr, den Inhalt zu vermitteln.
Wer oder was hat dich in letzter Zeit inspiriert?
Kinder zum Beispiel. Meine haben schon immer unfassbar bunte Bilder gemalt und tun es auch jetzt noch. Sie leben einfach im Moment, während wir in der Corona-Nachrichten-Bubble hängen. Für sie gibt es kein Morgen und kein Gestern, es gibt jetzt und da malt man bunte Bilder.
Und meine Dozenten, die ich gerade in meinem Kurs zur Achtsamkeitslehrerin erleben darf – sie sind 58 und 75, ein ehemaliger Doktor und eine Kunsttherapeutin. Sie sind so zauberhaft, wie sie die Inhalte vermitteln und mit wie viel Energie sie daran gehen. Sie haben sich ursprünglich vorgestellt, dass sie den Kurs persönlich machen und dann mussten sie schnell umswitchen auf Remote und machen jetzt auch das. Sie sitzen jetzt vor dem Laptop, mit dem sie noch nie eine Online-Schulung gemacht haben, und das finde ich extrem toll.
Ansonsten inspirieren mich Frauen aus der eigenen Reihe. Du zum Beispiel, weil ich es großartig finde, was du alles wuppst und wie vielseitig du bist. Da gibt es auch ganz viele andere, die ich beobachte. Zum Beispiel Jana Stecher von 1000 Elephants, die querdenkt und in Systemen denkt und auf ganz unterschiedliche Art und Weise Themen beleuchtet. Das finde ich sehr spannend. Da schaue ich mir viel ab.
Sehr schön. Ich danke dir vielmals für das wunderbare Interview.
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Mehr von und über Tina gibt es unter https://tina-weinmayer.de/.
Alle Bilder im Artikel stammen von der Fotografin Anette Göttlicher.
Den Talk von Tina bei TEDxStuttgart findest du hier: